J.Van Daele u.a. (Hrsg.): International Labour Organization

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Titel
ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and Its Impact on the World During the Twentieth Century


Herausgeber
Van Daele, Jasmien; Magaly, Rodríguez García; Geert, Van Goethem; Marcel, van der Linden
Reihe
International and Comparative Social History 12
Erschienen
Bern 2010: Peter Lang/Bern
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Cornelia Knab

Internationale Organisationen sind seit einigen Jahren zunehmend zum Gegenstand intensiver historischer Forschungen geworden. Unter anderem ermutigen methodische Ansätze der Globalgeschichte zum Hinterfragen etablierter Herangehensweisen und zum Austesten der Frage nach Globalität vor dem Hintergrund traditionell zumeist europäisch-amerikanisch ausgerichteter Forschungsschwerpunkte. Internationale Organisationen werden inzwischen weniger als institutionell abgegrenzte Einheiten, sondern als dynamische Plattformen für weiträumige transnationale Austausch- und Kommunikationsprozesse verstanden. 1 In diesem Zusammenhang hat besonders der Völkerbund, aber auch die Geschichte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) das Interesse der historischen Forschung auf sich gezogen. Dies liegt zum einen in der Bedeutung und Grösse der ILO begründet, zum anderen ermöglicht die Verfügbarkeit eines archivarischen Bestands umfassende Einblicke in Projekte und Funktionsweisen der Organisation – eine im Bereich internationaler Organisationen gerade für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nicht immer gegebene Voraussetzung. Der Sammelband «ILO Histories» geht aus den Beiträgen der internationalen Tagung «International Labour Organization: Past and Present» (Brüssel 2007) hervor, die erstmals ausschliesslich die Geschichte der ILO in den Mittelpunkt stellte. Bereits im Untertitel «Essays on the International Labour Organization and Its Impact on the World During the Twentieth Century» greifen die Herausgeber die Forderung auf, das Verhältnis zwischen europäischer Verfasstheit und internationalem Anspruch stärker zu thematisieren. Ziel des Bandes ist es, das grundsätzliche Anliegen der ILO historiographisch stärker in den Vordergrund zu rücken: Die Geschichte der Organisation sei weniger als Aneinanderreihung hübsch ausgefeilter Ratifizierungsinstrumente zu schreiben, sondern als eine Problematisierung ihrer Anstrengungen, wirkliche Veränderungen und Verbesserungen der weltweiten Arbeits- und damit der Lebensverhältnisse zu bewirken.

Jasmien Van Daele entwirft in ihrem einleitenden Kapitel «Writing ILO Histories: A State of the Art» anlässlich des 90. Jubiläums der Organisation eine breite Übersicht zur ILO-Historiographie. Die ILO konnte vor allem durch ihre unter internationalen Organisationen einzigartige dreigliedrige Organisationsstruktur aus Arbeitgeber-, Gewerkschafts- und Regierungsvertretern sowie durch die Bündelung verschiedener Aufgabenbereiche als «trendsetter among international organizations» (S. 13) gelten: Sie brachte Prozesse der Verrechtlichung internationaler Arbeitsstandards in Gang, sie organisierte Kooperationen in technischen ragen, und sie fungierte als internationales Expertenzentrum. Von Beginn an war die ILO-Historiographie stark von multidisziplinären Zügen gekennzeichnet; besonders in den ersten Jahrzehnten wurde ein grosser Teil des Schrifttums als «inside studies» von ILO-angebundenen Experten verschiedener Fachrichtungen verfasst. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg richteten Fachhistoriker verstärkt den Blick auf transnationale Kontexte der Arbeits- und Sozialpolitik. Van Daele konstatiert jedoch vor allem bei der Frage nach der Globalität vergangener und gegenwärtiger ILO-Forschung eine fortdauernde Begrenztheit auf den europäisch-amerikanischen Kontext, was nicht nur eine stärkere Einbindung nichtwestlicher Forscher, sondern eine generelle Verbreiterung der Forschungsthemen erforderlich mache.

Die folgenden Beiträge des Bandes unternehmen in chronologischer Reihenfolge detaillierte, auf umfangreiche Quellenbestände gestützte Analysen bestimmter Einzelaspekte der ILO-Geschichte. Dabei findet insbesondere die Zwischenkriegszeit grosse Beachtung. Im Kontext des Gründungsprozesses untersucht Elizabeth McKillen die Rolle des amerikanischen Gewerkschaftsverbands AFL, während Ulla Wikander die (grösstenteils gescheiterten) Einflussversuche von Seiten zivilgesellschaftlicher Frauenorganisationen aufzeigt. Reiner Tosstorff und Patrick Pasture beleuchten die gewerkschaftliche Vertretung im Rahmen der ILO mit dem Blick auf den Internationalen Gewerkschaftsbund (IFTU) und die christliche Gewerkschaftsbewegung in den 1920er und 1930er Jahren. Jeremy Seekings kommt in seinem Beitrag zur ILO-Einflussnahme auf Sozialreformen im «Global South» (am Beispiel von Südafrika, Lateinamerika und der Karibik) der Forderung nach einer geographischen Ausweitung des Untersuchungsfeldes nach. Im Zusammenhang mit der Entwicklung europäischer Sozialversicherungsmodelle analysiert Sandrine Kott die verschiedenen Rollen der ILO in der Zwischenkriegszeit und hebt die Funktion internationaler Netzwerke und demokratischer Bewegungen hervor. Pierre-Yves Saunier untersucht die Initiativen der ILO in der Frage sozialer Wohnverhältnisse als Beispiel für den Versuch einer internationalen Organisation, Autorität und Einfluss in einem umstrittenen Bereich und in der Interaktion mit anderen internationaler Organisationen strategisch zu erweitern. Susan Zimmermann thematisiert die ILO-Bemühungen im Bereich der «non-metropolitan labour» (bezogen auf abhängige Arbeitsverhältnisse in nichtindustriellen Staaten) und wirft damit ebenfalls die Frage nach geographischer Breitenwirkung auf. Ebenfalls für die Zwischenkriegszeit untersucht Thomas Cayet Verbindungen der ILO mit dem International Management Institute (IMI), und Christophe Verbruggen geht auf die internationalen Organisations- und Repräsentationsversuchen im Bereich geistiger Arbeit im Spannungsfeld zwischen ILO und der Kommission für Internationale Geistige Zusammenarbeit (CICI) des Völkerbunds ein. Stephen Hughes und Nigel Haworth zeigen die Veränderungen der ILO unter den beiden Generaldirektoren Harold Butler und John G. Winant in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise und faschistischer Bedrohung, die eine stärkere Ausrichtung hin zu Wirtschaftsfragen und einen wachsenden Einfluss des Neumitglieds USA bewirkten. Die Zeit grosser Umstrukturierungen der ILO in Nordamerika während des Zweiten Weltkrieges mit Edward Phelan als Generaldirektor untersucht Geert Van Goethem, während Jaci Leigh Eisenberg die schwierigen Beziehungen zu Vichy- Frankreich behandelt. Wie Daniel Roger Maul darlegt, konzentrierte sich die ILO vor dem Hintergrund von Kaltem Krieg und Dekolonisierung unter Generaldirektor David A. Morse stärker auf ihre Funktion als Kooperations- und Expertenleitstelle sowie auf Menschenrechtsfragen. Victoria Basualdo untersucht als ein Fallbeispiel für Potential und Grenzen von Einflussnahme die Beziehungen zwischen ILO und der argentinischen Militärdiktatur. Idesbald Godderis zeigt am Beispiel der polnischen Solidarnos´ c ´ die Funktion der ILO als internationales Forum mit legitimatorischer Bedeutung für Oppositionsbewegungen. G. K. Lieten fokussiert auf die Geschichte der Auseinandersetzungen um Kinderarbeit und damit auf die durchgehende Rolle der ILO als Normsetzungsinstitution durch internationale Konventionen. In ihrem umfassenden Schlussbericht fasst Magaly Rodríguez García nochmals die Antworten der Beiträger auf die wichtigsten Forschungsdesiderate zusammen – die Frage nach der globalen Ausrichtung der Forschung, die Gewichtung der staatlichen und nichtstaatlichen Akteure angesichts der dreigliedrigen ILO-Organisationsstruktur, die Spielräume der Männer an der Spitze sowie die ILO als internationales Forum mit einflussreichem «soft power»-Potential.

Der Sammelband «ILO Histories» bietet eine willkommene Kombination historiographischer Reflektion und umfassender Detailstudien. Insbesondere die Problematik, ob und wie bestimmte Akteure nach Repräsentation und Einfluss innerhalb der ILO strebten (und damit die Frage nach Einschluss und Ausschluss in internationale Organisationen) sowie die Konsequenzen für Wahrnehmung und Durchsetzungsvermögen der ILO werden auf durchweg breiter Quellenbasis analysiert. Damit greift der Band zwei historiographische Kernforderungen auf: Eine Reihe von Beiträgen richtet den Blick explizit auf die Rolle der ILO ausserhalb Europas und Nordamerikas und verdeutlicht damit eine Bandbreite von Funktionen, welche die ILO über die Jahrzehnte ihres Bestehens zu einer global einflussreichen «soft power» machten. Die dargestellten Interaktionen einer Vielzahl von staatlichen, gewerkschaftlichen, und zivilgesellschaftlichen Beteiligten in- und ausserhalb der ILO zeigen ausserdem institutionenübergreifende Spielräume und Netzwerkbildungen und damit die vielfachen Möglichkeiten indirekter Einflussnahme auf eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Gerade die Herangehensweise einiger Autoren, die ILO weniger in Form abgegrenzter Institutionengeschichte zu betrachten, sondern auf die Vernetzungen (und Spannungen) innerhalb einer «global community» internationaler Organisationen und weiterer Akteure mit unterschiedlichen Aktivitätskreisen zu fokussieren, gibt lohnende Impulse etwa für die Erschliessung weiterer Quellenbestände zur Geschichte internationaler Organisationen und zeigt damit weitreichende Perspektiven für zukünftige Forschungen auf. Insgesamt bietet der Band mit seinem umfassenden historiographischen Überblick, dem detaillierten Einblick in spezielle Aspekte der Geschichte internationaler Organisationen sowie seiner ausführlichen Bibliographie einen bedeutenden Beitrag zu einer breit angelegten ILO-Geschichtsschreibung.

1 Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009; Sandrine Kott, «International Organizations – A Field of Research for a Global History», in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online Edition, 8 (2011), H. 3, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Kott-3-2011.

Zitierweise:
Cornelia Knab: Rezension zu: Jasmien Van Daele, Magaly Rodríguez García, Geert Van Goethem, Marcel van der Linden (Hg.): ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and Its Impact on the World During the Twentieth Century. Bern u.a., Peter Lang, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 531-533

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 531-533

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